Interview mit Prälatin Gabriele Wulz
"Wir haben noch einen weiten Weg vor uns" – Auszug aus einem Interview mit Prälatin Gabriele Wulz über den Kampf gegen den Antisemitismus angesichts des Brandanschlags auf die Neue Synagoge in Ulm (das ganze Interview finden Sie hier).
Wie ist das Verhältnis von Kirche und jüdischer Gemeinde in Ulm?
Das Verhältnis zwischen der jüdischen Gemeinde und der Evangelischen Kirche in Ulm ist ausgezeichnet. Wir kennen einander, sind gut miteinander vernetzt und verbunden – sowohl auf der Strukturebene (Rat der Religionen) als auch persönlich – und wir stehen zueinander.
Antisemitismus stellt sich nicht immer so offen dar wie in diesem Fall – wo begegnet er Ihnen?
Antisemitismus ist ein Alltagsphänomen und so fest in unserer Kultur und Gesellschaft verankert, dass es vielen gar nicht auffällt [...]. Antijüdische Klischees sind auch dann gegenwärtig, wenn man ein düsteres Bild von der Umwelt Jesu zeichnet – selbstge- rechte Pharisäer etwa, um dann Jesus mit seiner Botschaft umso heller strahlen zu lassen. Dabei wird übersehen, dass die Schriften des Neuen Testaments zunächst einmal als „frühjüdische“ Schriften zu sehen und überhaupt: Jesus war Jude. [...]
In politischen Äußerungen wird Antisemitismus zuallermeist geächtet – woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass er dennoch so verbreitet ist?
Ich kann es mir nur so erklären, dass es ein Tabu gab, das jetzt immer ungenierter gebrochen wird. Wobei man sich nicht täu- schen darf: Die Ächtung des Antisemitismus ist sehr an der Oberfläche geblieben. Eine ehrliche Auseinandersetzung und eine schmerzhafte Selbstkritik habe ich auch im Raum der Kirche nur vereinzelt festgestellt. Die große Frage ist: Lassen wir uns durch unsere Geschichte wirklich in Frage stellen? Da haben wir alle noch einen weiten Weg vor uns und sind noch lange nicht am Ziel. [...]
Was können die Gemeinden vor Ort und auch die Kirche als Ganze tun, um Antisemitismus entgegenzutreten?
Zuallererst mal darauf hören und wahrnehmen, was jüdische Menschen in unserem Land erleben und welche Erfahrungen sie machen. Und dann nachfragen und widersprechen, wenn im Umfeld Antisemitisches geäußert wird. Das schließt die eigene Person mit ihren blinden Flecken immer mit ein. Kundgebungen sind ein wichtiges Zeichen, [... aber] nur ein erster Schritt. [...] Das Verhältnis zur jüdischen Gemeinde ist die Gretchenfrage für uns alle, auch für die Zivilgesellschaft.